Eine der schönsten Erfahrungen, die man im Ausland machen kann, ist – meiner Meinung nach – Erfahrungen zu machen. Hier nun zwei.
1. Für das Thema meiner Bachelorarbeit gibt es (noch) nicht viele Standard-Lehrbücher. Eins, was jedoch auf dem besten Weg dahin ist, ist dieses hier. Es erscheint im Verlag der Frau einer der Autoren und ist allein haptisch bereits exzellent – ein herrlicher bedruckter/bestickter (da fehlt mir das Buchbinder-Vokabular) Einband, der knapp 700 Seiten Wissen beschützt. Inhaltlich hat es die für eine erste Edition zu erwartenden Tippfehler, ist aber nichtsdestotrotz einfach geballtes Wissen inklusive Übungsaufgaben und Referenzen. Weiterer Pluspunkt: es ist vollkommen ’self-contained‘, also keine diversen weiteren Bücher zum Verständnis nötig, da es einen lehrreichen Appendix gibt. Genug geschwärmt: ich benutze derzeit das persönliche Exemplar des Postdocs, mit dem ich in einem Büro sitze und habe schon länger überlegt, mir mein eigenes Exemplar zu kaufen. Die Magdeburger Uni hat nur vierExemplare, die allesamt nicht ausleihbar sind und wenn ich nun an meinen Master denke, wird das bestimmt hilfreich sein. Das Buch kann nur auf der oben verlinkten Seite gekauft werden – selbst Amazon hat es nicht – und ist mit $110 keinesfalls billig. Nun bekomme ich ja ein Büchergeld-Stipendium und daher kann man das ja auch mal zweckgebunden investieren, also alles gut. Als ich meine Entscheidung dem Postdoc mitteilte, wurde unser neuer chinesischer Doktorand aufmerksam. Er sagt extrem selten etwas und stammelte etwas von ‚Baidu‘ – das chinesische Google. Nach ein paar Minuten war mir klar, was er meinte – wie könne ich so von Sinnen sein, ein Buch zu kaufen, wenn es das doch bei Baidu als pdf zum Herunterladen geben könnte. Er suchte und suchte und fand es nicht – was zu erwarten war. Als der Postdoc und ich ihn sanft darauf hinwiesen, dass dieses Vorgehen übrigens nicht legal sei, lächelte er – ein so Herz erwärmendes und sympathisches Lächeln – und zuckte mit den Schultern. Er mache das immer so, alle seine Freunde machen das so. Wir wiesen nochmals darauf hin, dass es nicht legal sei und er antwortete, dass er das eben so kenne… Mich überraschte weniger, dass er es illegal saugen wollte (das machen ja genügend mit Musik/Filmen) sondern eher diese vollkommene Unbefangenheit und Sorglosigkeit, wie ich sie – und hier nun endlich der Punkt – so in dieser Art nur von chinesischen Menschen kenne. Nun kenne ich wahrlich nicht viele, aber ich wage mal die Prognose, dass es eben doch etwas mit der Kultur zu tun hat. Es lässt sich am besten mit einem Achselzucken und einem sympathischen Lächeln beschreiben, so dass man ihnen nicht mal böse Absichten unterstellen will. Nichtsdestotrotz kann man auch mit guten Absichten unbeabsichtigt Schaden anrichten…
2. Wir waren ja bis vor Kurzem drei deutsche Jungs in der WG. Nun bin ich der einzige und ein Mädel ist eingezogen. Natürlich will man ja immer ein bisschen über den anderen erfahren und wie es sich so ergab, bin ich der Einzige aus den Bundesländern, die man selbst heute noch als ’neu‘ bezeichnet. Es wäre falsch, wenn ich sage, mich mittlerweile daran gewöhnt zu haben, dass man mir einen abwertenden Blick zuwirft, wenn ich verrate, dass ich in Magdeburg studiere und der Gegenüber aus Bundesländern ist, die man selbst heute noch als ‚alt‘ bezeichnet. ‚Stuttgart wäre doch so viel besser für dich gewesen, meinst du nicht?‘ Ich pflege auf solche Ratschläge gern mit folgender Gegenfrage zu antworten: ‚Weißt du, was Kybernetik ist?‘ Was ich jedoch überhaupt nicht gewöhnt bin, ist die Darstellung meiner Heimat in Deutschland in der Art ‚Da will keiner wohnen‘ und dies — das eigentlich Erschreckende — von einer Person, die so alt ist wie ich (dazu zähle ich auch im Jahr 1988 und 1990 Geborene). Beim besten Willen?! Wenn sich die ältere Generation (entschuldigt liebe Eltern – damit meine ich vor 1965 Geborene) über Begrifflichkeiten wie ‚West‘ und ‚Ost‘ und was weiß ich nicht streitet, dann kann sie das gern tun, denn es gibt sicherlich Diskussionsbedarf, aber wie kann bitte ein Element der Generation, die in einem zusammengeführten Deutschland (das soll so neutral konnotiert wie möglich und daher wertfrei sein) aufgewachsen ist, tatsächlich vollkommen der Überzeugung sein, dass sie so einen Satz fundiert von sich geben kann? Ich fand es wirklich erschreckend, denn ich habe nie bewusst erlebt, wie es ist, in einem getrennten Deutschland aufzuwachsen – zweifeln darf ich, dass das bei 1988ern sehr viel anders ist (1990 nicht erwähnenswert). Die Diskussion verlief sich im Sande, weil mein Gesprächspartner im Aufbruch war. In diesem Sinne nur noch eine Anmerkung, die ich auch schon ein paar Mal in Deutschland gemacht habe und die ebenfalls letztens bei einem gemeinsamen Barbecue aufkam. Es ging um Dialekte und ich wurde Zeuge eines Gesprächs zwischen Deutschen und Franzosen. Die Franzosen bekamen gerade erklärt, dass ein ostdeutscher Dialekt als weniger intelligent eingestuft wird als ein westdeutscher. Irre?! In Indien, so erfuhr ich, sei es wohl noch drastischer – die Sprache stuft ein, ob ein Mensch als akzeptabler ’sozialer‘ Partner eingestuft wird oder nicht. Und nochmals: wir sprechen von mir Gleichaltrigen Menschen.
Aber.. da Negativkritik immer einfacher ist als Positivkritik – so erschreckend es für mich ist, dass solche Gedanken umherschwirren, so wichtig ist es doch, dass man einen kleinen Teil dazu Beitrag kann, Vorurteile aus dem Weg zu räumen und genau dafür ist diese Multi-Kulti-WG geeignet – auch wenn Multi-Kulti in diesem Sinne lustigerweise Deutsch-Deutsch bedeutet.